socialnet Rezensionen: Louis Lowy – Sozialarbeit unter extremen Bedingungen. Lehren aus dem Holocaust (2023)

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Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 20.03.2019

Lorrie Greenhouse Gardella: Louis Lowy – Sozialarbeit unter extremen Bedingungen. Lehren aus dem Holocaust.Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb(Freiburg) 2019. 224Seiten.ISBN978-3-7841-3117-7. D:25,00 EUR, A:25,70 EUR.

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„Es war einfach der zwangsläufige Gang eines anständigen Menschen“

Diese Aussage von Hans von Dohnanyi, der während der Zeit des Nationalsozialismus mithalf, jüdische Mitbürger vor der Deportation in die Konzentrationslager und Ermordung zu bewahren und dafür, wie auch Pastor Bonhoeffer, zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde, zitierte einer der Überlebenden des Holocaust, Saul Friedländer, beim Diese Aussage von Hans von DohnanyiGedenktag des Bundestages an die Opfer des Holocaust. Er erinnerte daran, dass Menschenhass und Nationalismus auch bis heute nicht überwunden sind, sondern sogar durch Rassismus, Ethnozentrismus und Populismus überall in der Welt wiederaufleben. Nach dem fürchterlichen Genozid, der von den Nationalsozialisten begangen und von der Bevölkerung zugelassen wurde, könnten die Deutschen keine Gedichte mehr schreiben. Mit dieser Kulturkritik wollte Theodor W. Adorno darauf hinweisen, dass der Holocaust im Gedächtnis der Menschen aufbewahrt werden müsse und weder vergessen noch relativiert werden dürfe. Alle Versuche, dies trotzdem zu tun, müssten in Menschenfeindlichkeit enden. Im historischen Wandel darf die kollektive Erinnerung an Ereignisse und Katastrophen wie dem Holocaust nicht verloren gehen. Eine „Erziehung nach Auschwitz“ darf mit dem zunehmenden Verschwinden von Zeitzeugen nicht in Relativierungen und in Einstellungen wie – „Was hab' ich als Nachgeborener damit zu tun?“ – münden (vgl. dazu z.B.: Eva Matthes/Elisabeth Meilhammer, Hrsg., Holocaust Education im 21. Jahrhundert – Holocaust Education in the 21st Century, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/20232.php ).

Entstehungshintergrund und Autorin

Schulische und Erwachsenenbildung sind darauf angewiesen, dass der individuelle und gesellschaftliche Allgemeinbildungsauftrag konkret, wahrheitsgemäß und faktisch von ausgewiesenen Institutionen und Personen pädagogisch und didaktisch vermittelt wird. In der Sozialen Arbeit ist es das professionelle Demokratieverständnis, das gefordert wird (Patrick Oehler, Demokratie und Soziale Arbeit. Entwicklungslinien und Konturen demokratischer Professionalität, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25128.php ). Die Frage, wie Individuen und Gesellschaften geworden sind, was und wie sie sind, ist eng verbunden mit der historischen Nachschau und einer Erinnerungskultur, in der die sozialen Entwicklungen nachgezeichnet werden. Es sind menschengemachte Konzepte, Programme und Theorien, die nachgemacht werden, an die Anschluss gesucht wird, und die korrigiert oder verworfen werden. In der Sozialen Arbeit waren und sind es immer auch Fachleute und WissenschaftlerInnen, die Zeichen setzen. Bei den Veränderungsprozessen und Turns wird auf sie verwiesen – oder deren Wirken gerät in die Vergessenheit.

Der 1920 in München geborene und 1991 in Boston gestorbene deutsch-amerikanische Sozialwissenschaftler und Sozialarbeiter Louis Lowy (Löwy) wurde während der Zeit des Nationalsozialismus als Jude verfolgt. Seiner Familie gelang es, 1933 nach Prag auszuwandern. Louis Lowy studierte an der Karls-Universität Erziehungswissenschaft und wurde Lehrer. 1941 wurde er mit seinen Eltern in das Ghetto Theresienstadt eingeliefert, und 1944 zusammen mit seiner damaligen Verlobten und späteren Frau Ditta Jedlinski nach Auschwitz verbracht. Während die Eltern in Theresienstadt starben, gelang es Louis und Ditta Auschwitz zu überleben. Nach Kriegsende wurde Lowy als „Welfare Worker“ im Displaced Persons Camp der Vereinten Nationen im niederbayerischen Deggendorf eingesetzt. Später wanderte er mit seiner Frau nach Boston/USA aus. Er studierte Sozialarbeit, war als Sozialpädagoge und als Sozialwissenschaftler an der „Boston School of Social work“ tätig. In der Zeit, bis zu seinem Tod, war er auch als gefragter Experte für Soziale Arbeit in Deutschland engagiert.

Die 1993 gegründete „Gesellschaft für Social Groupwork e.V.“ ist ein Fachverband, der die Methode der Sozialen Gruppenarbeit in Theorie, Ausbildung und Praxis fördert. Als Mitglied der International Association for Social Work with Groups, engagiert sich der Fachverband auch, um „Aktivitäten von Menschen, die sich um das Thema 'Social Groupwork' bewegen, in die Öffentlichkeit zu tragen“ und darauf zu verweisen, dass Soziale Arbeit auf Theorien und Praxen gründet, „die in einer langen und eindrucksvollen Tradition steht“. Der „Groupworker“ Louis Lowy ist einer der (vergessenen?) Aktiven, die in der Berufszielsetzung und -ausübung der Sozialarbeit eines der wesentlichsten, individuellen und gruppenorientierten Herausforderungen erkannt haben, nämlich „dass Groupwork dann emanzipatorisch und ressourcenorientiert arbeiten kann, wenn ihr Hoffnung und Liebe zu den Menschen innewohnen“. Darauf verweist der Präsident der o.a. Gesellschaft und Systemischer Supervisor Klaus-Martin Ellerbrock im Vorwort zu dem Buch von Lorrie Greenhouse Gardella: „Louis Lowy. Sozialarbeit unter extremen Bedingungen“, das 2011 im Original mit dem Titel „The Life and Thought of Louis Lowy; Social Work through the Holocaust“ erschienen ist, 2019 ins Deutsche von Constanze Lehmann übersetzt, gefördert vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. und vom Lambertus-Verlag herausgegeben wurde. Lorrie Greenhouse Gardella ist Sozialwissenschaftlerin am Department of Social Work der Southern Connecticut State University in New Haven/USA.

Aufbau und Inhalt

Das Verbrechen gegen die Menschlichkeit, der Holocaust und die Shoa, die von den Nationalsozialisten während ihrer Gewaltherrschaft in Deutschland und Europa begangen wurden, werden in der Aufarbeitung des Genozids auch als „Bruch der Zeit“, und damit als unmenschliche, unvorstellbare Tat bezeichnet. Es war eine der wesentlichen Anliegen von Louis Lowy, mit seinen Erfahrungen als Überlebender und Sozialarbeiter dazu beizutragen, „den ‚Bruch der Zeit‘, den die Zeit des Nationalsozialismus darstellte, … heilen, indem er die menschliche und soziale Entwicklung, Demokratie und die Zukunft einer menschlichen Gesellschaft förderte“. Diese Charakterisierung formuliert Lorrie Greenhouse Gardella in der Einleitung. Neben dem Vorwort von Klaus-Martin Ellerbrock und dem Epilog von Joachim Wieler von der FHS Erfurt, gliedert die Autorin ihren Impuls zum Leben und Werk von Louis Lowy in weitere sieben Kapitel:

  • Im ersten zeichnet sie mit dem Titel „Eine europäische Kindheit“ nach, wie sich die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen des jungen Mannes und seiner Familie vollzogen. Es waren Drangsale, Benachteiligungen und rassistische Taten durch die Nazis und ihre Politik der Rassenlehre, die für die meisten, integrierten Menschen jüdischen Glaubens und Herkunft überraschend unverständlich und denen sie hilflos ausgesetzt waren.
  • Das zweite Kapitel behandelt die Situation im „Ghetto Theresienstadt“, dem Ort, in dem bis zu 50.000 Juden aus West- und Osteuropa zusammengepfercht in ehemaligen Messehallen und Militärkasernen lebten. In Zitaten, Textstellen und historischen Quellenmaterialien wird deutlich, dass insbesondere die „jungen Zionisten“, zu denen auch Louis Lowy und Jedlinsky gehörten, sich aktiv an der Betreuung und dem sozialen Zusammenhalt beteiligten.
  • Das dritte Kapitel wird überschrieben mit „Flucht aus Auschwitz“. Louis bekennt, dass er das, was er und seine Leidensgenossen in den Lagern in Auschwitz und Birkenau erlebten, nicht in Worte fassen könne. Es waren die unsagbaren Ungeheuerlichkeiten, dass den Menschen das Selbst genommen wurde und der Zynismus der Täter, Menschen durch Arbeit zu vernichten. Als schließlich die alliierte Front immer näher rückte, löste die SS die Lager auf, vernichtete Beweismaterialien und trieben die gehfähigen Häftlinge im „Todesmarsch“ in andere KZ in Österreich und Deutschland. Die chaotischen Verhältnisse nutzte eine kleine Gruppe unter Louis Führung zur Flucht die Rote Armee war schließlich nur ein paar Kilometer entfernt.
  • Im vierten Kapitel wird der „Sozialpolitiker“ vorgestellt. Die Befreiung und Kriegsende bewirkten, dass Tausende von Überlebenden in Osteuropa unterwegs waren, um nach Familienangehörigen und Freunden zu suchen und neue Lebensorte und -gelegenheiten zu finden. Die „displaced persons“ standen unter dem besonderen Schutz der alliierten Besatzungsmächte. Die United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) wurde 1943 gegründet und später von der UNO übernommen. Louis Lowy beschreibt die Situation so: „Es gab Millionen von Flüchtlingen. Sie waren nicht nur Juden. Sie waren Russen, Polen, Ungarn… Wenn man als Displaced Person registriert war, hatte man eine Identität…“. In Deggendorf wurde ein DP-Lager speziell für überlebende Juden aus Theresienstadt eingerichtet. Louis Lowy wurde wegen seiner Sprachkenntnisse und seines Organisationstalents als Leiter eines Selbstverwaltungskomitees bestimmt. Es entstand eine jüdische Gemeinde mit zahlreichen sozialpädagogischen und kulturellen Initiativen.
  • Das fünfte Kapitel handelt von „Louis und Ditta“, wie sie zusammenkamen, im Mai 1944 getrennt wurden und sich wiederfanden und heirateten. In Deggendorf erfuhr Louis, dass Ditta und ihre Mutter lebten und in Bratislava wohnten. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass viele der erwachsenen Holocaustüberlebenden Überlebende aus dem Grauen heirateten. Es waren die gemeinsam erlebten Leiden und Erfahrungen. Louis und Ditta „hatten beide Auschwitz durchlitten, Zwangsarbeit und einen Todesmarsch, und sie waren beide dem Tode sehr nahe gewesen“. Es gelang ihm, auf abenteuerlichen Wegen durch die Besatzungszonen der Alliierten zu kommen und Ditta und ihre Mutter nach Deggendorf zu holen. Ditta Jedlinsky und Louis Lowy heirateten am 2. Dezember 1945.
  • „Das Displaced-Persons-Lager Deggendorf“ wird im sechsten Kapitel vorgestellt. Das System der jüdischen Selbstverwaltung wurde im wesentlich vom Vorsitzenden des Komitees, Louis Lowy, entwickelt: Großküche, Krankenstation, Kindergarten und Schule, Synagoge, Sprachkurse, kulturelle Veranstaltungen: „Es entstand etwas aus dem Nichts“. Aber wie sollte es weitergehen? Welche neue Heimat konnte es für die Überlebenden des Holocaust geben? Israel, USA…
  • Das siebte Kapitel informiert über den „Werdegang eines Sozialarbeiters“. Die Ankunft in New York und die Weiterfahrt nach Boston war für die Ankömmlinge in einem fremden Land mit einer fremden Sprache und Gewohnheiten nicht einfach. „Jewish Family and Children’s Services“ war hilfreich, es gab Arbeit in Lagerhäusern und Betrieben, und damit ein geringes Einkommen zum Überleben. Es gelang Louis, zuerst als Teilzeitstudent an der Boston University amerikanische Geschichte und Literatur zu studieren. Nach dem Bachelorabschluss 1949 wurde er zum Studium an der „School of Social Work“ zugelassen, das er im Mai 1951 mit dem Master für Soziale Arbeit abschloss. Seine akademische Karriere als Wissenschaftler, Forscher und Lehrer charakterisierte der Aachener Sozialwissenschaftler Heinz J. Kersting (1937 – 2005), der 1967 Schüler bei Lowy in der Akademie für Jugendfragen in Münster war, mit den Worten: „Lehren war Louis Lowys Leben“.

Fazit

Lorrie Greenhouse Gardella legt die Lebens- und Schaffensgeschichte eines außergewöhnlichen Menschen vor: Louis Lowy. Der Überlebende des Holocaust hat in der Sozialen Arbeit eines der wesentlichen Herausforderungen verstanden und gelebt, die es dem Menschen ermöglichen, selbstbewusst, selbstbestimmt, demokratisch und menschenwürdig zu existieren. In der „Interdependenz der Generationen“, der „sozialen Partizipation“ und insbesondere in der Auseinandersetzung mit seiner und der Holocaust-Geschichte sah er die Anforderungen für professionelles Denken und Handeln. „Sozialarbeit unter extremen Bedingungen“, dieser Anspruch erfordert nicht nur eine ehrliche und faktische Erinnerungsarbeit, sondern weist, wie Joachim Wieler in seinem Epilog feststellt, auch auf die gegenwärtigen und zukünftigen Diskurse hin, wie Soziale Arbeit in den Zeiten von Flüchtlingskrisen und Fake News wirksam werden kann (vgl. z.B. dazu auch: Heike Herrmann, Soziale Arbeit im Sozialraum. Stadtsoziologische Zugänge, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/25366.php ).

Die als SW-Abbildungen beigefügten Fotos und Quellennachweise vermitteln einen hilfreichen und nützlichen Eindruck zum Thema.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 20.03.2019 zu:Lorrie Greenhouse Gardella: Louis Lowy – Sozialarbeit unter extremen Bedingungen. Lehren aus dem Holocaust. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb(Freiburg) 2019. ISBN978-3-7841-3117-7.In: socialnet Rezensionen, ISSN2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25411.php, Datum des Zugriffs 25.08.2023.

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Author: Kareem Mueller DO

Last Updated: 05/10/2023

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